1. Der Holunder
Der Fluss war reissend und weder Quistel noch Quastel wussten, wie sie auf die andere Seite gelangen sollten. Auch Bala, die schwarze Mischlingshündin, suchte vergebens nach einem Übergang. Auf der anderen Flussseite sass ein Eichhörnchen mit leuchtend braunrotem Fell und betrachtete staunend den hinter den beiden Jungen stehenden Baum. So etwas hatte es noch nie gesehen: einen Baum, der nicht nur die Äste, sondern auch die Wurzeln bewegte. Es hatte früher Sagen und Geschichten erzählt bekommen, in denen von laufenden Bäumen die Rede gewesen war, aber es hatte den Erzählungen nicht wirklich geglaubt. Doch nun stand auf der anderen Seite des hochwasserführenden Flusses ein Baum, den es vorher noch nie gesehen hatte. Da war sich das Eichhörnchen ganz sicher, denn es kannte die Gegend sehr genau und es hatte beobachtet, wie sich die Wurzeln bewegt hatten. Sollte das wirklich so ein laufender Baum sein? Das Eichhörnchen sah nur eine Möglichkeit dies zweifelsfrei herauszufinden. Es musste den Baum fragen, mit ihm reden. Bei so hohem Wasser hatte es sich jedoch noch nie über den Fluss gewagt. „Schau da drüben ein Eichhörnchen,“ sagte Quastel und zeigte hinüber. Quistel schaute suchend auf die gegenüberliegende Seite, doch er konnte kein Eichhörnchen entdecken: „Schade, jetzt ist es weg,“ sagte er. Die beiden Jungen schauten sich ratlos an. Sie sahen keine Möglichkeit an das gegenüberliegende Flussufer zu gelangen. Das Eichhörnchen jedoch hatte einen Weg gefunden und sass nun fast zu oberst in der Baumkrone und wollte nur eines wissen: „Kannst du laufen?“ „Natürlich kann ich mich fortbewegen,“ flüsterte der laufende Baum, „aber nur in den warmen Monaten. Im Winter muss ich meine Wurzeln tief in den Boden bohren, damit ich Wasser finde.“ Das Eichhörnchen wollte nicht glauben, was es da hörte, und fragte ganz aufgeregt noch mal nach: „Du kannst dich also richtig bewegen, du kannst laufen von einem Ort zum andern, überall hin, wohin du willst?“ „Ja, das kann ich wirklich, aber meistens stehe ich bei Quistel und Quastel, den beiden Jungen da unten. Ich heisse übrigens Willi und wer bist du?“ „Ich bin ein Eichhörnchen und lebe hier in diesem Waldstück und möchte zu gerne wissen, was ihr hier macht, denn ich bin unglaublich neugierig!“ „Wir sind auf der Suche nach einem anderen laufenden Baum. Ein Rabe hat uns erzählt, dass gar nicht weit von hier ein solcher auf einer Lichtung leben soll und da ich mich manchmal einsam fühle, habe ich Quistel und Quastel gebeten, mir bei der Suche zu helfen. Jetzt stehen wir hier an diesem Fluss und können nicht hinüber.“ „Du kannst wirklich nicht rüber,“ meinte das Eichhörnchen, „aber für die drei da unten wüsste ich einen Weg.“ Das zu hören freute Willi so, dass er ganz laut zu den Zwillingen und Bala hinunter rief: „Das Eichhörnchen weiss einen Weg für euch.“ Quastel, der nahe am Wasser stand, wäre beinahe hineingestolpert, so erschrak er, denn Willi sprach eigentlich immer mit einer ganz sanften, ruhigen Stimme. Erst einmal hatte er ihn so schreien hören. Damals trat der Drache Sansibar Willi auf eine Wurzel, so dass diese brach. Quistel konnte Quastel im letzten Moment noch am Ärmel packen und damit seinen Sturz in die reissenden Wassermassen verhindern. Nach dem ersten Schreck wurde ihnen bewusst, was Willi gerufen hatte, und nun sahen sie das Eichhörnchen oben in der Baumkrone. Sie baten es näher zu kommen. Vorsichtig kletterte es ein paar Äste tiefer. „Warst du nicht eben noch auf der anderen Seite des Flusses, ich hab dich doch dort drüben gesehen?“ wollte Quastel ganz aufgeregt wissen. „Wie bist du herübergekommen?“ Das Eichhörnchen wagte nicht zu antworten, denn vor Menschen sollte man sich in Acht nehmen. Das hatte es von seinen Eltern gelernt. Doch dies waren ja Menschen, die mit einem laufenden Baum befreundet waren, und ob für solche die Warnung der Eltern auch galt, wusste das Eichhörnchen nicht genau. Bala erkannte die Unsicherheit und mischte sich ein: „Du brauchst keine Angst vor uns zu haben!“ sagte sie mit freundlicher, ruhiger Stimme, „schau, Quistel und Quastel sind so nett, dass ich liebend gerne bei ihnen lebe und nicht nur ich, auch Willi der laufende Baum und Sansibar der Drache. Du brauchst dich also nicht zu fürchten,“ fuhr die Hündin fort. „Wir suchen einen Verwandten von Willi, und wenn du weißt, wie wir über den Fluss kommen, wären wir dir sehr dankbar für deine Hilfe.“ Das Eichhörnchen zögerte noch einen kurzen Moment, dann sprang es noch ein paar Äste näher, hielt jedoch immer noch genug Abstand, um bei Gefahr sofort flüchten zu können. „Gar nicht weit von hier liegt eine grosse, umgestürzte Tanne, über diese könntet ihr klettern,“ erklärte das Eichhörnchen, „und ich würde euch gerne dort hin führen, aber zuerst muss ich Willi noch etwas fragen.“ Das Eichhörnchen kletterte so schnell an Willis Stamm hoch, dass dieser lachen musste, weil ihn die kleinen Krallen kitzelten. Oben angelangt wollte das Eichhörnchen von Willi wissen, ob die Höhle im Stamm unter dem grossen Ast bewohnt sei. Willi erklärte, dass schon lange kein Tier mehr in dieser Höhle gelebt habe, und wollte seinerseits wissen, wieso sich das Eichhörnchen dafür interessiere. Es erklärte, dass es auf der Suche nach einer eigenen Baumhöhle sei, und fragte, ob es nicht in dieser leben dürfte. Willi wollte gerade zustimmen, als Bala ungeduldig heraufrief: „Eichhörnchen, zeig uns doch erst mal den Weg zum umgestürzten |